Wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden. Etwa die Hälfte aller Männer und zwei Drittel aller Frauen werden im Lauf ihres Lebens pflegebedürftig.

Mein Vater ist 83. Er wandert jeden Tag zwei Stunden im Wald, geht dreimal in der Woche ins Fitnessstudio. Er praktiziert schon seit langem Intervallfasten, ohne zu wissen, was das ist. Er trinkt keinen einzigen Tropfen Alkohol. Wenn er zum Checkup beim Arzt ist, seufzt der und sagt: „Die Werte hätte ich auch gerne.” Mein Vater sieht aus wie maximal 65. Er hat in unserem letzten gemeinsamen Familienurlaub in zwei nebeneinanderliegenden ähnlich eingerichteten Häusern die Badezimmer verwechselt, fremde Zahnbürsten benutzt, wusste kurz nicht mehr, wo er war. Es hat ihn schockiert. Meine Mutter saß später weinend neben mir am Strand und sagte: „Jetzt geht es los.” Sie wird bald 81. Sie ist genauso fit wie er. Meine Eltern haben gehofft, so wie wir beiden Töchter, dass das wohl ewig so weitergeht, bis sie eines Tages einen relativ schnellen unspektakulären Tod sterben. So wie meine Großmutter und meine Urgroßmutter, die sich beide nur mit kleineren Altersbeschwerden jeweils mit 83 ins Bett legten, nicht mehr aufstanden und verkündeten, jetzt will ich nicht mehr. Genug gelebt. Zeit zu gehen. Sie starben innerhalb von zwei Wochen.

Meine Eltern leben daher nach dem Grundsatz: gesprochen wird erst über den letzten gemeinsamen Weg, wenn schon gestorben wird. Ein Davor existiert nicht. Aus Angst, aus Verdrängung, auch bodenlosem Optimismus? Sie wollen nicht darüber reden, dass sie plötzlich schnell pflegebedürftig werden könnten, vielleicht sogar fast gleichzeitig, über schwindende Kräfte, unvernünftige Entscheidungen, Festhalten am Unmöglichen. Und wenn es nur das Fahren ihres geliebten Autos ist ohne Hörgerät und mit beginnender Demenz und vor allem mit einer großen Portion Altersstarrsinn. Wer soll sich dann um sie kümmern, um das Haus, in dem sie bleiben und auf keinen Fall für eine Pflegeeinrichtung verlassen wollen? Was wird sein, wenn mein Vater vielleicht nicht nur Zimmer verwechselt und die Medaillen vergessen hat, die er früher als Turner gewonnen hat, sondern auch die Frau, mit der er seit fast 60 Jahren verheiratet ist.

Dass das alles sehr schnell passieren kann, belegen allein die Zahlen. Etwa die Hälfte aller Männer und zwei Drittel aller Frauen werden im Lauf ihres Lebens pflegebedürftig. Bis 2030 wird die Zahl der Pflegedürftigen in Deutschland auf sechs Millionen anwachsen, sagt der aktuelle BARMER-Pflegereport. Die meisten wollen gern zu Hause gepflegt werden. Und tatsächlich werden 72 Prozent aller Pflegebedürftigen dort betreut, 50 Prozent allein durch ihre Angehörigen. Nur 27 Prozent der Pflegebedürftigen kommen vollstationär im Heim unter. In weniger als zehn Jahren werden also knapp drei Millionen Pflegebedürftige ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt und damit rund 630.000 mehr als im Jahr 2020.

Viele der Angehörigen, und das sind in den allermeisten Fällen immer noch die Töchter, erwischt diese Situation mitten in der Sandwichphase ihres Lebens. Die Kinder sind noch nicht aus dem Haus, im Zweifel in der Pubertät und man selbst gerade mittendrin in der Menopause. Dazu müssen oft im Beruf 100 Prozent geleistet werden. Aber wie soll das gehen: Gleichzeitig die pflegebedürftige Mutter wickeln und den dementen Vater nicht aus den Augen lassen, wenn man 400 Kilometer weit weg wohnt, das einzige Kind ist oder die Geschwister sich weigern, ebenfalls einzuspringen, weil Familie, Beruf, Partnerschaft auch sie schon an die täglichen Grenzen bringen, das ist deshalb bei sehr vielen unmöglich. Und dann die Frage, ob man seinen Beruf aufgeben muss, um etwas zurückzugeben von der Liebe, die man zeitlebens bekommen hat.

Man will die Eltern nicht verlieren, reagiert aber oft erstmal mit Abwehr auf die ersten kleinen Zeichen ihres Verfalls, zeigt sich genervt, zurechtweisend, ungeduldig und weiß doch, dass das alles ungerecht ist und man selbst nur so, weil in einem die Angst aufsteigt, vor dem was kommt und vor dem, was angesprochen werden muss. Weil es unser eigenes Leben damit endgültiger macht, an festen Gewissheiten rüttelt: Die Eltern, die im besten Fall Geborgenheit, Heimat und Unterstützung waren und sind, sie werden in allzu naher Zukunft verschwunden sein. 

Gefühle wie Angst, Überforderung, Trauer machen sich breit, wie auch die Antworten zu dem Thema im Newsletter zeigen. Mitgefühl, Hilflosigkeit, Belastung, Wut. Ein Strudel der Emotionen, dem die Ratlosigkeit gegenübersteht, wie man überhaupt mit dieser neuen Situation umgehen soll. Wenn man selbst nicht mehr Kind ist, sondern die Eltern plötzlich zu Kindern werden, die Aufmerksamkeit, Pflege und Dankbarkeit einfordern oder auch ablehnen. „Man geht ständig gegen den Willen der Eltern oder nimmt ihnen die Autonomie”, schreibt eine von Euch. „Meine Mutter hat uns immer wieder Vorwürfe gemacht, wir hätten sie weggesperrt, als sie Hals über Kopf nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim musste”, eine andere. „Es war alles ganz furchtbar, dauerte 10 Jahre und ich weiß nicht mehr, wie ich das neben Job und Beziehung alles erledigen konnte”, eine dritte. 

Zu diesem „alles” gehört immer auch das sich kümmern um Mietverträge, das Eigenheim der Eltern, Steuer, Arztbesuche, Krankenhausvollmachten, Besuche, Testament, Entmündigung. Die Liste ist endlos, darauf vorbereitet ist fast niemand, weder Eltern noch erwachsene Kinder. Kann man sich überhaupt darauf vorbereiten, und wenn ja wie, was wünscht Ihr Euch von der Gesellschaft in punkto pflegebedürftige Eltern haben wir euch gefragt. Eure Antworten, Vorsorgetipps, Anlaufstellen teilen wir mit Euch in einem nächsten Beitrag zum Thema, dazu gibt es u.a. noch Antworten von Experten zum Thema „Wie rede ich überhaupt mit meinen noch gesunden Eltern über diese Phase”, gibt es Tabus und wie sollen beide Seiten mit der Endlichkeit des Lebens frühzeitig genug umgehen.