Vor über zwanzig Jahren ist Beatrix Gerstberger das erste Mal in ein Hummerfischerdorf in Maine gefahren und einige Monate geblieben. Es befindet sich auf einer Insel, die sie am liebsten nie verlassen hätte, denn das Hummerfischerdorf ist für sie seitdem zu dem geworden, was man wohl Seelenort nennt. Die Menschen dort sind rau und direkt, sie ist immer wieder mit Hummerfischerinnen rausgefahren, auch in den folgenden Jahren, wenn sie wieder ins Dorf zurückkehrte. Die Hummerfischerinnen haben ihr von ihren Leben erzählt, von Verlust und Trauer und Weitermachen, all dies in einer immer noch vorrangig von Männern geprägten Welt. Diese Frauen waren die Inspiration für ihren Debütroman „Die Hummerfrauen”.
Warum bist Du Anfang der 2000er Jahre das erste Mal nach Maine gefahren?
Ich bin mit meinem damals noch kleinen Sohn für ein halbes Jahr in das Hummerfischerdorf gezogen, nachdem mein Partner gestorben war. Ein Ort am Meer, ein kleines Dorf schien mir der richtige Platz zu sein, um einen Weg aus der Trauer zu finden. Und mit der Zeit dort habe ich gelernt, dass es so viele unterschiedliche Formen von Verlust auch in so einem Dorf gibt, dessen schöne Kulisse vielleicht darüber wegtäuscht. Und dass es genauso viele unterschiedliche Wege gibt, damit umzugehen.
In Deinem Roman geht es um starke, komplexe Frauenfiguren – Ann, Julie und Mina, die drei Generationen repräsentieren. Wer ist Ann und was macht sie aus?
Ann war zunächst Uniprofessorin, bevor sie mit ihrer Partnerin Carolyn nach Maine zog und versuchte, mit einem Gemüseladen Geld zu verdienen. Als das nicht klappte, wurde sie mit über 50 Hummerfischerin, was für eine Frau, eine Zugezogene und in dem Alter gleich dreifach ungewöhnlich für die Dorfgemeinschaft ist. Sie blieb immer eine Außenseiterin, auch weil sie eher eigenbrötlerisch und stoisch ihren eigenen Weg geht.
Julie ist 54, durch einen schweren Unfall trägt sie ein Trauma mit sich. Was treibt diese Protagonistin an?
Julie musste nach dem schweren Unfall ihr bisheriges Leben komplett aufgeben. Sie hat sich mühsam ihren Platz unter den Hummerfischern erkämpft. Sie verdeckt mit ihrer Schroffheit nur ihr sehr verletzliches Inneres, weil sie sowohl körperlich als auch mental nie wieder an die Julie von früher anknüpfen konnte. Und sie hat Angst vor der späten Liebe, die ihr mit dem Witwer Nat begegnet, auch das versucht sie unter flotten Sprüchen zu verstecken.
Mina ist mit 28 Jahren die Jüngste im Kreis der Frauen. Auch sie hat schwere Schicksalsschläge erlitten, kehrt nach langer Zeit zurück nach Maine. Wie ist diese Figur charakterisiert?
Mina ist nach dem Verlust ihres Bruders und durch den lebenslangen Konflikt mit ihrer dominanten Mutter auf der Suche nach sich selbst – und den glücklichen Tagen ihrer Kindheit in Maine. Sie bewegt sich zunächst tastend durch die Geschichte, vor allem tastend durch ihre neu erwachte Liebe zu ihrem Kindheitsfreund Sam, ist aber am Ende stark genug, sich von ihren Dämonen zu befreien.
Gibt es eine Protagonistin in „Die Hummerfrauen”, der Du Dich besonders nah fühlst – vielleicht, weil sie Facetten Deiner eigenen Geschichte trägt?
Ja, es ist vor allem Julie. Ich mag ihren Humor wahnsinnig gern, mit dem sie sich durchs Leben kämpft. Dass sich unter all ihrer Schlagfertigkeit aber auch ein verletzlicher Mensch versteckt, da kann ich mich durchaus erkennen. Trauer ist für andere oft so unerträglich und macht sie befangen, da macht man als Trauernder lieber einen schnellen Spruch, um die Situation aufzulösen.
Welche Rolle spielt das Meer – oder allgemein die Natur – als Motiv im Buch und auch für Dich persönlich?
Natur und vor allem das Meer waren schon immer ein sehr wichtiger Ort für mich. Meine Großmutter liebte die Nordsee, am meisten sogar bei rauem Wetter, dann hat sie ein Feuer am Strand gemacht und mir Geschichten erzählt. Das Meer und die Geschichten bedingten also einander, und das hat mich sehr geprägt, denke ich, auch mein Schreiben. Und ein wenig ist von meiner doch auch eigenwilligen Großmutter in meine älteste Fischerin Ann miteingeflossen.
Wie kamst Du auf die Figur des blauen Hummers, Mr. Darcy? Der Buchumschlag mit dem rosa Hummer und der mit einem blauen Hummer bedruckte Einband sind ein sehr gelungenes optisches Element.
Als ich in Maine gelebt habe, gab es am Hafen einen kleinen Schuppen, in dem man die Hummer fangfrisch kaufen konnte. Sie waren in einem riesigen Aquarium, und nur einer von ihnen hatte eine ganz besondere blaue Farbe. So einen Hummer gibt es im Schnitt nur einmal unter zwei Millionen, habe ich damals gelernt. Die Frau in dem Laden hat ihn nie verkauft, hat immer mit ihm gesprochen und ihn am Ende der Saison wieder ins Meer gelassen. Dieser Hummer und die Verbindung zwischen der Frau und ihm, das hat mich berührt.
Was ist das Wichtigste, was Du von den Hummerfrauen dort gelernt hast?
Dass es in der Trauer oder einfach auch in einem sehr harten Leben auch sehr frohe und sogar witzige Momente geben kann. Die passieren oft genau dann, wenn man nicht damit rechnet. Und mit Menschen, die man vorher oft gar nicht richtig wahrgenommen hat, weil sie vielleicht komplett anders sind als man selbst. Ich sage gern, Trauer macht großzügig und offen anderen gegenüber, so wie meine beiden älteren Hummerfischerinnen Ann und Julie. Die sind absolut unterschiedlich und haben trotzdem ein feines Gespür für den Schmerz und die Hoffnungen der anderen.
Meine Erfahrung ist auch, dass es Frauen leichter fällt, sich gegenseitig zu öffnen, zu vertrauen und sich zu helfen, wenn es einer von ihnen nicht gut geht. Und ich denke, dass ist auch keine Frage des Alters, man kann sehr gut über die Generationen hinweg eng befreundet sein. Meine drei Frauen sind am Ende eine Wahlfamilie und ihre Stärke ist, dass jede von ihnen schwach sein darf und ohne viel Aufhebens von den anderen unterstützt wird.